Von der Selbstverständlichkeit
Der Herbst – ein letztes Aufflackern der Lebensenergie der Natur. Noch zwei südlichere Tage und dann… Nebelschwaden, Kälte, Endzeit. Doch wir brauchen ihn, denn ohne Ende kein Anfang, ohne Sterben kein Leben, ohne Finsternis kein Licht, ohne Herbst kein Frühling.
Der Frühling ist die literarisch am höchsten gepriesene Jahreszeit – alles sprießt, alles duftet, der Zauber des Kindchenschemas wohin das Auge reicht. Ja, er ist leicht zu lieben. Da zeigt sich der Herbst etwas anders – für ihn müssen wir den abgöttisch geliebten Sommer ziehen lassen und bekommen stattdessen Hochnebel, Kälte und Verwesung. Dennoch geben wir der Liebe auf den zweiten Blick eine Chance.
Schönheit?
Wir kennen sie, die Schönheiten jenseits der „Geschmacksache“. Die, denen man den goldenen Schnitt auf Gesicht und Körper legen kann. Dazu glänzende Haare, weiße Zähne, Porzellanteint und dann auch noch ein hinreißendes Wesen – das ist der Frühling.
Diejenigen mit der etwas zu langen Nase, den etwas zu hohen Backenknochen, den etwas zu eng stehenden Augen, die mit schwarzem Humor und losem Mundwerk, sie stehen für den Herbst.
Man verliebt sich vielleicht nicht auf den ersten Blick in sie, aber dieser schiefe Charme kann nachhaltig beeindrucken.
Herbstdepression?
Wir nehmen an, 95 Prozent der Bevölkerung kennen sie persönlich. An mir beginnt sie schon zu nagen, wenn der Sommer noch in voller Pracht vor mir liegt. Allein das Wissen um das absehbare Einsetzen des Hochnebels, lässt ab Anfang August der Melancholie ihren Raum.
Vielleicht ist das auch wichtig. Vielleicht brauchen wir das Vakuum nach den Tagen der Fülle und des ausgelassenen Lebens unter freiem Himmel.
Im Herbst wird es schwieriger, seinen Mitmenschen einfach über den Weg zu laufen. Im Herbst müssen Einladungen ausgesprochen, Teekessel geheizt und Vorhänge zugezogen werden.
Alles, was uns im Sommer zufliegt, verliert im Herbst seine Selbstverständlichkeit und das ist vielleicht auch gut so.
Die Versuchung wäre allzu groß, alle Selbstverständlichkeit gering zu schätzen. Woran könnte die Fülle auch ihren Wert messen, wenn nicht an der Leere. Wie könnte das Leben in jedem Jahr neu zu sprießen beginnen, wenn es davor nicht vergehen würde.
All das macht Sinn bis wir reif sind für den ewigen Sommer.