„Momentan befinden wir uns in einer Imaginationsflaute“, Liya Yu

Die letzten Entwicklungen haben viele Menschen frustriert und demoralisiert. Doch es gibt viele positive Entwicklungen und Menschen, die Ideen für eine gute Zukunft haben und diese auch konsequent verfolgen. Die Politikwissenschafterin und Philosophin Liya Yu ortet einen Mangel an Visionen einer wünschenswerten Zukunft. Sie will eine Basis für einen neuen Gesellschaftsvertrag finden, um die ständig stärker spürbar werdende Spaltung innerhalb der Gesellschaft zu überwinden.  Mithilfe der Neuropolitik kann uns dies gelingen, ist Yu überzeugt.

 

„Momentan befinden wir uns in einer Imaginationsflaute“

Philosophin Liya Yu

 

Uns fehlen Visionen, wie wir sein könnten, so die Philosophin Liya Yu und schlägt damit in dieselbe Kerbe wie deutsche Physikerin, Philosophin und Klimatologin Friederike Otto. „Wir denken viel zu wenig visionär“, meint die Politikwissenschafterin und Philosophin Liya Yu. Doch es gibt weltweit Visionäre, die gerade dabei sind, ihre Ideen umzusetzen, wie der Historiker Rutger Bregman, über den wir ebenfalls vor Kurzem geschrieben haben.

Wie jede:r einzelne die Welt verbessern kann: Rutger Bregman

Die Philosophin beschäftigt sich mit der Frage, wie wir eine gerechtere Gesellschaft kreieren können. Sie erforscht, wie Neurowissenschaft uns dabei helfen kann, die immer stärker werdende Spaltung innerhalb der Gesellschaft zu überwinden.

 

Verletzliche Gehirne – Neuropolitik

In ihrem Buch „Vulnerable Minds: The Neuropolitics of Divided Societies“ beschreibt Liya Yu, dass es ihr darum gehe, „die Basis für einen neuen Gesellschaftsvertrag in unserer hyperdiversen Welt zu finden. Diese Basis bietet meiner Ansicht nach die Neuropolitik.“

Die Philophin erklärt den Begriff Neuopolitik so:  „Die neuropolitische Forschung geht davon aus, dass es für bestimmte politische Phänomene Erklärungen aus der Gehirnforschung gibt. Auf der Gehirnebene spielen sich Dinge ab, die wir mit Umfragen, mit Verhaltensbeobachtung allein nicht erklären können. Es gibt zum Beispiel weiße Menschen, bei denen das Gehirnareal für Angst aktiv wird, sobald sie einen Schwarzen sehen, auch wenn sie sich nicht als Rassisten bezeichnen und sich auch nicht rassistisch verhalten.“

 

„Wir haben alle ausgrenzende Gehirne.“

Dies erklärt Yu im Interview mit Zeit Online. „Unsere Gehirne teilen Menschen seit jeher nach Zugehörigkeit ein, in sogenannte In- und Outgruppen. Angehörigen von Ingruppen, der wir selbst angehörigen, sprechen wir mehr Menschlichkeit zu, wir fühlen stärker mit ihnen mit, sind mehr bereit, ihnen zu helfen. Outgroups gestehen wir weniger Menschlichkeit zu. Dieses Phänomen nennt man in der neuropolitischen Forschung Dehumanisierung. Das ergibt, aus Sicht der Evolution betrachtet, sogar Sinn.“

 

Von Kindheit an haben wir ein Freund-Feind-Schema in uns

Von Kindesalter an teile ich Menschen in Ingroups , denen ich mich zugehörig fühle und Outgroups ein, die ich dehumanisiere. Dieses Feind-Freund-Bild trage jede:r in sich. Und zwar dort, wo im Gehrin unser Sozialverhalten verankert ist, im Präfontalen Cortex. Diese Gehirnregion sei laut Yu bei liberalen Menschen aktiver, sie sind resilienter zum Beispiel gegen Ängste. Dazu neigen konservative Menschen, sie streben eher nach Sicherheit. Allerdings ist diese Gehirnregion veränderbar.

Im demokratischen Diskurs hören wir Menschen ständig, was wir verlieren. Dies müsse sich ändern. Wir müssen den Menschen erklären, was sie gewinnen im Gegensatz zu einem Leben in autokratischen oder diktatorischen Systemen.

 

Empathie mit Grenzen

Jeder kann andere dehumanisieren und tut es zumindest im Kleinen auch hin und wieder. „Unsere Empathiefähigkeit hat Grenzen. Sie wollen eigentlich Benachteiligten helfen, gehen nach einem anstrengenden Arbeitstag aber mit abgewandtem Blick an den Obdachlosen vorbei. Sie lesen Nachrichten über Opfer eines fernen Krieges und empfinden dabei nichts. Ein paar Stufen schlimmer ist Dehumanisierung zum Beispiel, wenn Sie foltern können, ohne Schmerz zu empfinden.“

Yu vertritt die Auffassung, dass die kognitive Entmenschlichung der wichtigste Störfaktor für Kooperation und Solidarität ist und dass der auf liberalen Werten basierende Diskurs dagegen nicht ausreicht.

 

Welche Prozesse im Gehirn setzt man in Gang, wenn man andere dehumanisiert?

„Wenn ich jemanden dehumanisiere, werden dieselben Hirnareale aktiviert, wie wenn ich einen Stuhl anschaue, haben Studien bewiesen. Ich betrachte einen Menschen als Objekt, nicht mit Aggression, sondern mit völliger Gleichgültigkeit. Ich nehme den anderen gar nicht wahr. Internationale Konfliktforscher haben unter diesem Aspekt den Israel- und Palästina-Konflikt untersucht und herausgefunden: Wenn Menschen sich vom Gegenüber dehumanisiert und ignoriert fühlen, so wie Palästinenser sich vom Staat Israel behandelt fühlen, setzen sie sich mit viel höherer Gewaltbereitschaft zur Wehr, als wenn sie sich „nur“ benachteiligt fühlen. Gleichzeitig sind Israelis weniger zu friedlichen Beziehungen bereit, wenn sie sich von Palästinensern entmenschlicht fühlen.“, erklärt die Politikwissenschafterin.

In ihrem Buch „Vulnerable Minds“ präsentiert Yu eine neue neuropolitische Sprache der Überzeugung, die auf Moralisierung oder Beschämung verzichtet und stattdessen an gemeinsame neurobiologische Schwachstellen appelliert. Sie biete darin ihren Leser:innen praktische Strategien, um diejenigen anzusprechen, mit denen wir am stärksten nicht übereinstimmen, und stellt eine zeitgemäße Anleitung zur Bewältigung der Herausforderung dar, andere einzubeziehen und zu vermenschlichen, so der Verleger.

Wenn man bedenkt, wie schwer wir uns oft gerade mit Menschen tun, die sehr wenig mit uns übereinstimmen, ohne einfach wegzuschauen oder sie zu ignorieren, kann der Ansatz von Yu ein willkommener, zukunftsträchtiger Schritt in die richtige Richtung sein.

 

„Vulnerable Minds: The Neuropolitics of Divided Societies“, Columbia University Press, 2022, Liya Yu