Ein Fünftel aller Arten in Europa vom Aussterben bedroht

Zu diesem Schluss kommt eine neue Studie unter der Leitung des Biogeographen Axel Hochkirch des Nationalmuseums für Naturgeschichte Luxemburg und der Uni Trier. Damit ist die Situation noch drastischer als bis dato von Forscher*innen angenommen. Als Basis für die neue Studie dient die Rote Liste gefährdeter Arten für Europa der Weltnaturschutzunion (IUCN) aus dem Jahr 2020, die fast 15.000 Arten umfasste. Das entspricht zehn Prozent aller Tier- und Pflanzenarten des Kontinents.

 

Das Artensterben nimmt apokalyptische Ausmaße an

Die Studienergebnisse im Detail

In Europa ist etwa ein Fünftel (19,4 %, 2.839 Arten) der 14.669 bewerteten Arten vom Aussterben bedroht. Dazu gehören Vögel, Fische, Säugetiere und Reptilien (Wirbeltiere), Insekten und Spinnen (wirbellose Tiere) und Pflanzen wie Bäume, Farne, Moose und Wasserpflanzen.

 

50 Arten sind als ausgestorben, regional ausgestorben oder in der Natur ausgestorben und weitere 75 als möglicherweise ausgestorben eingestuft. Der Prozentsatz der bedrohten Arten war bei den Pflanzen (27 %) und den wirbellosen Tieren (24 %) höher als bei den Wirbeltieren (18 %).

 

Fast die Hälfte (6.926 von 14.669) der bewerteten Arten in Europa sind endemisch, darunter 2.125 bedrohte Arten. 86 Prozent (1.171) der bedrohten wirbellosen Tiere sind in Europa endemisch. Knapp die Hälfte (54 %) der bedrohten Arten wurden in Schutzgebieten dokumentiert, ein Prozentsatz, der niedriger ist als bei den nahezu bedrohten oder am wenigsten bedrohten Arten (61 %).

 

Dies lässt laut Studie Zweifel an der Eignung des europäischen Schutzgebietsnetzes als Mittel zum Schutz aller bedrohten Arten aufkommen und unterstreicht die Notwendigkeit, es zu erweitern und zu verbessern.

 

Die Alpen sind ein Artenvielfalts-Hotspot

 

Quelle: https://doi.org/10.1371/journal.pone.0293083

 

Die Analyse der terrestrischen Artenvielfalt in Europa  unterstreicht die Bedeutung der Gebirgssysteme für den Fortbestand der biologischen Vielfalt in Europa. Gebirge beherbergen eine große Anzahl endemischer Arten und sind zudem weniger vom Menschen verändert als Flachland und Küsten.

 

Die flächenmäßig größte Artenzahl wurde in den Südalpen, den östlichen Pyrenäen und dem Pirin-Gebirge in Bulgarien festgestellt, während die bedrohte Artenvielfalt in den Alpen und auf dem Balkan ihren Höhepunkt erreicht.

 

Nachdem wir in Österreich eine besonders hohe Artenvielfalt haben, ist auch unsere Verantwortung, diese zu erhalten, besonders hoch, meint dazu Jan Christian Habel vom Fachbereich Umwelt und Diversität der Universität Salzburg.

 

Gründe des Artensterbens

Unsere Analysen bestätigen, dass die biologische Vielfalt durch eine Vielzahl von Bedrohungen beeinträchtigt wird. Dazu die Autor*innen der Studie: „Zwar wurde die Feststellung, dass landwirtschaftliche Landnutzungsänderungen eine große Bedrohung darstellen, schon oft gemacht, aber unsere Analyse ist die bisher umfassendste und eindeutigste, die das Ausmaß dieser Bedrohung im kontinentalen Maßstab bestätigt.“

 

  • Intensive Landwirtschaft

Dies stellt die größte Bedrohung für die europäischen Arten dar. Die starke Auswirkung der landwirtschaftlichen Flächennutzung ist bei Wirbellosen und Pflanzen stärker ausgeprägt, während Wirbeltiere (insbesondere Fische) häufiger durch Übernutzung bedroht sind, da sie direkt gejagt, gefangen und gefischt werden können (auch durch Beifang), was zu einer umfassenden Bedrohung für Meeresfische und andere Meereswirbeltiere führt.

  • Raubbau an biologischen Ressourcen

Laut WWF sind 75% der Lebensräume an Land schwerwiegend verändert, dazu zählt neben der industriellen Landwirtschaft auch der Bergbau und Waldzerstörung.

  • Siedlungs- und Gewerbeentwicklung

Die Entwicklung von Wohngebieten und Gewerbegebieten ist eine wichtige Ursache für den Verlust und die Verschlechterung von Lebensräumen, von denen viele Wirbellosen- und Pflanzenarten betroffen sind.

  • Umweltverschmutzung

Dies ist eine besondere Bedrohung für Süßwasserarten wie Fische, Mollusken und Libellen.

  • Klimawandel

Er stellt für viele Arten eine große Bedrohung dar und wurde in der Studie als die wichtigste künftige Bedrohung eingestuft. Dies wird durch die zunehmende Zahl von Dürren in Europa bestätigt, die das Risiko von Waldbränden erhöhen, was durch eine erhöhte Wasserentnahme für die Landwirtschaft und die Haushalte noch verschärft wird.

 

Rückschluss auf globale Situation

„Europa ist eine jener Regionen der Erde, für die wir noch die besten Daten haben“, sagt Matthias Glaubrecht, Professor für Biodiversität an der Uni Hamburg. „Wenn sich hier die Situation schon derart dramatisch darstellt, bedeutet dies, dass sich die Biodiversitätskrise in anderen, weitaus artenreicheren Regionen sehr wahrscheinlich noch deutlich brisanter darstellt – insbesondere in den nach wie vor unzureichend erforschten Tropengebieten, etwa in Asien und Afrika, wo es ein ungebrochenes Bevölkerungswachstum der Menschen als letztlich den Ressourcenverbrauch treibenden Faktor gibt.“ Und viele Arten sind noch gar nicht erfasst.

„Es sind Arten, die wir schneller vernichten, als wir sie erforschen können“,

so Glaubrecht.

 

Diese – sehr beunruhigende  – Entwicklung steht ganz im Gegensatz zu dem Artenschutzabkommen der Kunming-Montreal-Konferenz letzten Dezember, das vom Menschen verursachte Artensterben bis 2030 zu stoppen und bis 2050 die Aussterberate beziehungsweise das Aussterberisiko aller Arten um das Zehnfache zu reduzieren.

 

Es ist vollbracht: Das neue Artenschutzabkommen

 

Was uns fehlt sind Taten

„Weite Bereiche europäischer Landschaften sind noch immer zunehmenden Landnutzungsintensivierungen ausgesetzt“, sagt Carl Beierkuhnlein, Professor für Biogeografie an der Universität Bayreuth, dem Science Media Center. „Landwirtschaftliche Fragmentierung von Lebensräumen, Zusammenlegung von Parzellen zu großen Schlägen, Einsatz von Agrarchemikalien, Entsorgung von Gülle und vielfache Mahd von Grünland pro Jahr verurteilen die Naturschutzbemühungen auf den teils winzigen Restflächen zum Scheitern.“

 

„Wichtig ist es, Maßnahmen zum Schutz gefährdeter Arten einzuleiten. Diese zeigten bei Wirbeltieren ja schon viel Erfolg, was die Ausbreitung früher gefährdeter Arten, wie Schwarzstorch, Seeadler, Wanderfalke, Uhu und Fischotter beweist“, so Hochkirch: „Es ist wichtig, die notwendigen Erhaltungsmaßnahmen rechtzeitig umzusetzen. Wir verfügen bereits über genügend Beweise, um zu handeln – was uns fehlt, sind Taten.“

 

Link:

Studie in „PLOS ONE“